Anhörung im BundestagNeun zu Null gegen die Chatkontrolle

Im Ausschuss für Digitales haben gestern neun Sachverständige zur auf EU-Ebene geplanten Chatkontrolle ausgesagt. Die Anhörung der Expert:innen machte deutlich: Die Chatkontrolle ist technisch nicht möglich und würde in einer nie dagewesenen Weise in Freiheitsrechte eingreifen.

Demoschilder vor dem Reichstagsgebäude

Sie stimmen sich auf die Chatkontrolle-Anhörung im Digitalausschuss im Marie-Elisabeth-Lüders Haus ein, die in gut zwei Stunden beginnt: Einige Aktivist:innen vor dem Reichstagsgebäude. Neben ihnen steht eine gläserne Vitrine, in der eine Handyhalterung angebracht ist. Zuschauer:innen können ihr Smartphone in die Vorrichtung stellen und „analog“ auf verdächtige Inhalte scannen lassen. So erklärt es einer der Protestierenden. Bei Verdacht ertöne dann eine Warnleuchte: Bestimmte Inhalte werden jetzt an die Behörden weitergeleitet.

Die Kunstaktion vor dem Bundestag – satirisch und ernst zugleich – soll die Auswirkungen einer geplanten Chatkontrolle verdeutlichen. Digitalcourage e.V. hat sie ins Leben gerufen: Ein Verein, der sich für digitale Grundrechte sowie den Schutz der Privatsphäre und personenbezogenen Daten einsetzt. Konstantin Macher ist einer der Sprecher von Digitalcourage, er sagt: „Die Chatkontrolle ist nichts anderes als eine anlasslose Massenüberwachung ohne Verdacht: Alle Handys, alle Onlinekommunikation ist davon betroffen.“

Aktion vor dem Bundestag

Bei der kleinen Aktion sind auch drei Bundestagsabgeordnete anwesend. Anna Kassautzki zum Beispiel, SPD- und Digitalausschuss-Mitglied. Die SPD sei gegen die Verordnung, gegen Massenüberwachung, sagt sie – so stehe es auch im Koalitionsvertrag. Die Auswirkungen einer Chatkontrolle könne man sich verdeutlichen, in dem man sich vorstelle, Behörden hätten im analogen Zeitalter sämtliche private Briefe aller Bürger:innen mitgelesen. Es könne nicht sein, dass im Verordnungsentwurf so fundamental zwischen digitaler und analoger Kommunikation unterschieden wird, sagt Kassautzki.

Anke Domscheit-Berg von der Linkspartei ist auch vor Ort. Sie verweist auf ein aktuelles Positionspapier des Innenministeriums zur Chatkontrolle, das netzpolitik.org am Tag vor der Anhörung exklusiv veröffentlicht hat. Darin steht, dass sich die Koalition auf EU-Ebene gegen das sogenannte Client-Side-Scanning aussprechen möchte – aber bei vielen Punkten, wie der Überwachung von E-Mails oder privaten Cloudspeichern noch uneins ist.

Schon lange in der Kritik

Zur Erinnerung: Zur Rede steht ein Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, die sogenannte CSAM-Verordnung, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz bekämpfen soll. Der Entwurf steht schon seit knapp zwei Jahren Zeit in Kritik. Anbieter von Messenger-, E-Mail- und Cloud-Diensten werden darin verpflichtet, auf Anordnung Inhalte zu scannen, bei Verdacht zu blockieren und an Ermittlungsbehörden weiterzuleiten. Diese Maßnahme wird als Chatkontrolle bezeichnet.

Gegner der Chatkontrolle sehen darin eine anlasslose Massenüberwachung, die gegen Freiheitsrechte verstößt. Besonders umstritten am Entwurf ist das sogenannte Client-Side-Scanning. Unter Client-Side-Scanning versteht man das Scannen von Bild-, Video-, Text- und Audionachrichten bevor diese ein Nutzer oder eine Nutzerin verschlüsselt versendet. Stark umstritten sind neben dem Client-Side-Scanning auch die geplanten Regelungen zur Altersverifizierung, zu Netzsperren und zur Durchsuchung von unverschlüsselten Mails, Messengern und Cloudspeichern.

Sachverständige einig wie selten

Die Anhörung im Digitalausschuss beginnt, die Sachverständigen geben ihr Eingangsstatement ab. Schnell wird deutlich: Sowohl juristisch als auch technisch ist die Chatkontrolle nicht gangbar – darüber sind sich alle neun Expert:innen einig. Ein Gleichklang, wie er im Digitalausschuss wohl selten zu hören ist.

Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW), spricht zwar von einer „grundsätzlich richtigen Initiative“ gegen sexualisierte Gewalt. Es gebe allerdings „keine Strafverfolgung um jeden Preis“. Der Eingriff in die Privatsphäre durch die Chatkontrolle wäre zu hoch; es bräuchte einen sachgerechten Ausgleich mit den Grundrechten.

Auch Joachim Türk vom Kinderschutzbund schloss sich der Kritik an: Viele würden in der Verordnung fälschlicherweise einen Wettstreit zwischen Kinder- und Datenschutz sehen. Eigentlich ginge es aber um einen Ausgleich: „Dieser Vorschlag ist kein Ausgleich“, sagte Türk. Vertrauliche, unüberwachte Kommunikation sei eine wichtige Säule der Demokratie, die Vertrauen schaffe und für heranwachsende Kinder unerlässlich sei.

Hartmann führt hingegen weiter aus: Künstliche Intelligenz zur Erkennung von Missbrauchsmaterial sei ungeeignet, um einen Anfangsverdacht zu begründen. Detektionsmechanismen wie die Chatkontrolle könnten nur unterstützend bei bekanntem Bildmaterial, niemals aber initiativ zum erstmaligen Ausfindigmachen sexualisierter Inhalte zum Einsatz kommen. Hartmann spricht sich damit deutlich gegen die automatisierte Erkennung von neuem Material und von Cybergrooming aus. Unter Cybergrooming versteht man die sexuelle Anbahnung von Erwachsenen per Chat gegenüber Kindern.

Chatkontrolle hat vor dem EuGH keine Chance

Auch der Bundesdatenschutzbeauftrage Ulrich Kelber und Felix Reda von der Gesellschaft für Freiheitsrechte sind entschieden gegen eine Chatkontrolle. Kelber sagt, die Implikationen seien „weit außerhalb jeglicher Verhältnismäßigkeit“. Reda zufolge verletzt die Chatkontrolle den Wesensgehalt des Rechts auf Privatsphäre, ein Scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sei vorprogrammiert. Besonders sensible Inhalte, wie zum Beispiel einvernehmlicher Sex von Jugendlichen, würden trotzdem zuvor auf dem Tisch von Ermittlungsbehörden landen. Bis der EuGH einen Fall nämlich nach einer Klage letztinstanzlich entscheidet, dauert es häufig Jahre.

Ein Horrorszenario für die Betroffenen, das auch Martin Steinebach vom Fraunhofer-Institut aus technischer Perspektive bestätigen kann. Steinebach hat Erkennungsoftwares mit entwickelt und rechnet zum Beispiel beim Cybergrooming „realistischerweise von Fehlerraten zwischen 10 und 20 Prozent“. Die Konsequenz sei, dass viele Millionen Inhalte händisch kontrolliert werden müssten: ein krasser Eingriff in die Privatsphäre der Bürger:innen in der EU. Aber auch eine krasse Überforderung für die Ermittlungsbehörden.

Ausgang offen

Was bedeutet all das für die Bundesregierung? Reda sagt, Deutschland müsse sich im weiteren Gesetzgebungsprozess im Rat der Europäischen Union gegen die Chatkontrolle aussprechen. So könne man gemeinsam mit Österreich, den Niederlanden und einem weiteren EU-Mitgliedstaat eine Sperrminorität erreichen. Einen solchen Vorstoß von wichtigen Mitgliedstaaten könne die EU-Kommission nicht ignorieren.

Die Vorgabe der Sachverständigen ist also klar: Das Innenministerium, das für Deutschland auf EU-Ebene verhandelt, soll klare Kante zeigen und sich gegen das Vorhaben der Kommission positionieren. Nach der Anhörung im Digitalausschuss ist der Endstand dieser Sitzung allerdings klar. Digitale Freiheitsrechte: neun, Chatkontrolle: null.

2 Ergänzungen

  1. Also nach Lesart der Innenminister*innen sind da sicher nur die falschen Sachverständigen angerufen worden. Daher muss das jetzt Zeitnahe umgesetzt werden.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.